Ich blättere im Fotoalbum und entdecke mein Einschulungsfoto. Es wurde in der Aula der Schule aufgenommen. 1987. Hinten rechts steht eine große DDR-Fahne. Hammer, Zirkel, Ährenkranz. Davor stehe ich. Um den Hals: ein kleines Kreuz. Zwei Zeichen. Zwei Welten. Ein Staat, der an Mauern glaubte. Ein Glaube, der von Freiheit erzählte. Ein System, das Kontrolle wollte. Und ein Symbol, das leise widersprach.
Ich staune. So deutlich zu zeigen, woran man glaubt. Das war mutig. Ein mutiges Mädchen, das sagt, was es denkt, sollte ich eigentlich nicht werden. Zumindest, wenn es nach meinen Lehrerinnen ging. Ich sollte „politisch zuverlässig“ werden. Nachsprechen. Anpassen. Mitlaufen.
Damals durfte man vieles nicht sagen. Nicht laut fragen, warum die Mauer steht. Nicht erwähnen, dass man in der Kirche singt. Nicht jedem erzählen, wie offen man in der Jungen Gemeinde über Frieden diskutiert und für ihn betet. In der SED-Diktatur riskierte man damit folgenschwere Konsequenzen und Schikane. Und ich stehe da als 7-Jährige mit meiner Kette.
Heute schmunzle ich über diesen leisen Widerspruch einer Erstklässlerin. Der wahrscheinlich gar nicht als einer gedacht war. Die Kreuzkette ist wie ein Funke Mut. Wie Hoffnung, in Gold gefasst, die verheißt: „Gott stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.“ Niemand hat das je für möglich gehalten. Und dann kam der 9. November. Die Mauer fiel. Menschen tanzten. Tränen liefen. Grenzen wurden überflüssig.
Lange ist das her. Heute wachsen wieder Mauern. In den Köpfen. In Herzen. In Kommentaren. Angst klebt sich neu an alte Worte. Wie schnell kann Freiheit bröckeln? Wie leicht wird vergessen, dass Demokratie nie selbstverständlich ist. Es braucht Widerspruch. Lauten und leisen. Und manchmal reicht ein kleines Kreuz neben einer großen Fahne. Um anderen Mut zu machen und dann vielleicht gemeinsam zu zeigen: „So nicht.“

