Dorothee wartet. Nicht auf den Bus oder die Post. Dorothee wartet auf die Auferstehung. So steht es jedenfalls auf ihrem Grabstein. Der lehnt im Kreuzgang der Brüdernkirche Sankt Ulrici an der Wand. Meine Augen gleiten über die verwitterte Inschrift. Dorothee ist nicht für immer und ewig tot, höre ich mich sagen. Sie wartet nur.
Der Gedanke gefällt mir. So habe ich das noch nie gesehen. Hat der Himmel eine Wartehalle? Vor meinem inneren Auge entsteht eine wunderschöne Empfangshalle. Hell und warm. Jede und jeder fühlt sich willkommen und geborgen. Es gibt Sessel und eine Bar. Und da warten sie, alle, die ich schmerzlich losgelassen habe: Meine Großmutter Charlotte. Meine Schwiegermama. Das Kind unserer Freunde. Der liebgewonnene Nachbar. All die Menschen. Sie entdecken sich in der Menge wieder und winken. Gehen aufeinander zu und umarmen sich. Einer wiegt ein Baby im Arm. Zwei küssen sich. Eine liest in Ruhe ein Buch.
Es ist kein nerviges Herumsitzen und ungeduldiges Warten. Sie sind mehr wie liebe Gäste, die erwartet wurden. Ihr Gepäck haben sie längst abgegeben. Die Päckchen und Bündel wurden ihnen abgenommen. Die Gesichter wirken gelöst und frei. Und dann ruft eine freundliche Stimme durch die Lautsprecher: „Hallo. Gott wird bei euch wohnen und mit euch zusammen sein. Gott wird alle Tränen von euren Augen abwischen. Der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein. Das Erste ist jetzt vergangen. Gott macht euch neu.“
Als ich die alte Holztür vom Kreuzgang der Brüdernkirche hinter mir zumache und wieder auf der Straße stehe, fühle ich mich getröstet. Dorothees Grabstein hat mich angerührt. Meine Toten warten. Ein schöner Gedanke. Etwas naiv? Vielleicht. Doch für heute ist es mein Hoffnungsschimmer. Für heute ist es mein Trost.