Redaktion: Hans-Joachim Juny und Marianne Zimmermann von der Ev.-luth. Kirchengemeinde Mascherode.
Mit ihrem Beitrag „Verschont mich mit politischen Predigten!“, der Ende 2021 in der ZEIT erschien, löste die Journalistin Liane Bednarz eine breite Reaktion unter den Leserinnen und Lesern aus. Ihre Auffassung, die evangelische Kirche vernachlässige ihre „Kernbotschaft aus Sünde, Tod, Erlösung und dem ewigen Leben“ zugunsten einer politisch-gesellschaftlichen Ausrichtung, wurde kontrovers diskutiert. Besonders ausführlich und kritisch setzte sich damit der Publizist Christian Nürnberger auseinander, für den die „Botschaft der Bibel“ in erster Linie eine „politische“ ist.
Wir sprachen mit Propst Lars Dedekind über die Thematik.
Was ist für Sie die Kernbotschaft der Kirche – „Sünde, Tod, Erlösung“ oder eher Nächstenliebe, Eintreten für die Armen, für Frieden, für die Bewahrung der Schöpfung?
Für mich ist die in der Frage vorausgesetzte Gegensätzlichkeit in der Verdichtung der christlichen Botschaft auf entweder die von Bednarz postulierte Trias von „Sünde, Tod, Erlösung“ oder die des Konziliaren Prozesses des ÖRK von „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ nicht gegeben. Vielmehr bedingen sich für mich beide Aspekte. Sünde, also das Getrenntsein von Gott, führt zur Ungerechtigkeit, zum Verlust des Friedens im Miteinander der Menschen untereinander und im Miteinander mit der ganzen Schöpfung (vgl. Röm 8, 19-24).
Tod und Auferstehung Jesu Christi werden uns in der Bibel als die alles verändernde Heilstat Gottes dargestellt. Seit dem ersten Osterfest haben Menschen darauf vertraut, dass der Tod durch Christi Tod überwunden und das Ewige Leben durch Seine Auferstehung gewonnen ist. In diesem Glauben um die größere Dimension des Lebens und in dem Bewusstsein einer Verantwortung vor Gott für das eigene Handeln hat diese Botschaft zu allen Zeiten Christen herausgefordert, immer wieder neu ihr eigenes Denken und Handeln kritisch auf die Botschaft des Evangeliums hin zu prüfen. Daraus erwachsen dann auch für mich sehr konkrete ethische Maßstäbe, die ähnlich der Naturenlehre über das Wesen Jesu Christi (wahrer Mensch und wahrer Gott – „unvermischt“, „unverwandelt“, „ungetrennt“ und „unzerteilt“) nicht grundsätzlich von der Heilstat Gottes in Jesus Christus zu trennen sind.
Es gibt Umweltorganisationen, die Friedensbewegung, Flüchtlingshilfe: Brauchen wir für ein Engagement in diesen Bereichen auch noch die Kirche? Gibt es ein Alleinstellungsmerkmal der Kirche, oder schwimmt sie da eher im Mainstream mit?
Weil der christliche Glaube keine abstrakte Theorie ist, sondern sich im Lebensvollzug eines jeden Christenmenschen inkarniert, wird der lebendige Glaube immer auch sehr konkret werden, und das kann und muss auch heißen dürfen, dass sich Christinnen und Christen aktiv einsetzen für die Umwelt, für den Frieden, für Geflüchtete. Um es mit anderen Begrifflichkeiten zu sagen: „Theologia“ und „Diakonia“ gehören zusammen. Sie brauchen einander und bilden gemeinsam die „Ecclesia“ als lebendigen Leib Christi in unserer Zeit.
Halten Sie die Kritik an der Seenotrettungsaktion der Kirche für gerechtfertigt?
Nein, denn Leben retten, hat Priorität. Trotzdem muss auch Kirche, über dieses konkrete Handeln in der Seenotrettung hinaus, sich (und andere) fragen, was die Gründe dafür sind, dass sich Flüchtlinge Menschenschmugglern anvertrauen und den Weg über das gefährliche Mittelmeer wagen. Seenotrettungsschiffe allein reichen nicht, es braucht Veränderungen in den Herkunftsländern, es braucht in der Tat eine neue globale Verantwortung, die sich gerade auch aus der christlichen Ethik postulieren lässt, und womit wir wieder bei der oben benannten Trias des Konziliaren Prozesses wären: Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung.
Fridays for Future-Demos: Haben Sie schon mal in offizieller Kirchenfunktion daran teilgenommen? Bzw.: Würden Sie teilnehmen?
Ja, ich habe schon an Fridays für Future (FFF)-Demos teilgenommen, bislang jedoch nicht in offizieller, kirchlicher Funktion. Würde FFF mich um einen Redebeitrag als Propst bitten, würde ich dieses sicherlich nicht ablehnen, sondern in so einem Kontext mich einsetzen für die Bewahrung der Schöpfung und versuchen kenntlich zu machen, woher dafür meine Motivation kommt; und die ist eben nicht aus einer apokalyptischen Angst oder anderen Weltuntergangsszenarien hergeleitet, sondern von der Verantwortung, die wir vor Gott haben, für das, was er uns anvertraut hat und mit der Perspektive der Verheißungen, die wir haben.
Sie haben in Braunschweig den „Runden Tisch gegen Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung“ ins Leben gerufen – gehört dieses Engagement Ihrer Meinung nach auch zu den „Kernaufgaben“ der Kirche?
Unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Positionen einen gemeinsamen Raum des Austausches und der Verständigung zu ermöglichen, gehört zu den Aufgaben von Kirche. Ist der Runde Tisch die Kernbotschaft der Kirche? Das sicherlich nicht und diesen Anspruch erhebt er auch nicht. Es ist aber ein wichtiges Signal, wenn Kirche in unserem Land und unserer Stadt auch klare Position bezieht, zu menschenverachtenden, diskriminierenden und/oder rassistisch motivierten Haltungen und Handlungen. Dass Kirche dazu schweigt oder sich gar damit eins macht, darf es m.E. gerade in unserem Land nie wieder geben. Hier haben wir in der Tat eine hohe Verantwortung, die auch (aber nicht nur) aus einer großen historischen Schuld erwächst.
Ist die Botschaft der Bibel für Sie eine politische Botschaft?
Eine Frage, die man nicht so einfach mit ja oder nein beantworten kann, denn zuerst müsste der Begriff „politisch“ geklärt werden. Im Sinne von „polis“, also einer an alle Bürger einer Stadt gerichteten Botschaft, ist die Botschaft der Bibel politisch, denn die Bibel beinhaltet sehr deutlich einen Auftrag zur Verkündigung des Evangeliums (nicht nur bis an die Grenzen der Stadtmauern, sondern) bis ans Ende der Welt (Mt 28,20).
Ist die Botschaft der Bibel politisch mit Blick auf konkretes, aktives Handeln? Auch das würde ich bejahen, denn die Bibel beinhaltet eine Vielzahl sehr konkreter Aufforderungen (zum Teil aus Jesu Munde), wie wir leben sollten (z.B. Mt. 5,43-48: dort ist der Aufruf zur Feindesliebe und zu einem vollkommenen Sein, was wohl bei den meisten von uns immer noch Spielraum zur Erfüllung hat).
Und politisch im Sinne von Politischem-Partei-Ergreifen? Das eher nicht, obwohl genau dieses wohl der faktische, offizielle Grund für die damalige römische Besatzungsmacht war, um Jesus zum Tode am Kreuz zu verurteilen. Denn dieses war die Strafe für politische Widerstandskämpfer und nicht etwa für Wanderprediger und Wunderheiler. Die Messias-Erwartungen zu der Zeit Jesu beinhalteten die politische Befreiung von der römischen Besatzungsmacht und die Wiederaufrichtung eines Königreiches nach dem alttestamentlichen Vorbild des Königs David.
Erst nach und nach haben dann die ersten Christen verstanden, dass durch Jesu Tod und Auferstehung diese sehr konkrete, damit aber auch räumlich und zeitlich sehr begrenzte Messiasvorstellung – im wahrsten Sinne des Wortes – durchkreuzt worden ist. Sie erkannten, dass Leben und Botschaft Jesu Christi, dass sein Tod und seine Auferstehung nicht exklusiv auf das Volk Israel zu beziehen sind, sondern allen Menschen gelten. Dieser universale christliche Glaube an das Evangelium von Jesus Christus ist keine abstrakte Theorie, keine Elfenbeinturm-Theologie, sondern er fordert jede Generation von Christinnen und Christen in ihrem jeweiligen Kontext dazu auf, das Evangelium von Jesus Christus für sich zu deuten und zu leben in Formen der gottesdienstlichen Gemeinschaft und des praktischen (und damit auch des politischen) Lebensvollzugs.
Haben Sie wegen Ihres politischen Engagements Hass-/Drohbotschaften bekommen?
Verärgerte Briefe an der Grenze des Ertragbaren? Ja, die gibt es vereinzelt. Zumeist aber auch eher wegen innerer kirchenpolitischer Fragestellungen und Herausforderungen als in Bezug auf andere mögliche Themen. Hass- und Drohbotschaften? Nein. Zumindest nicht hier in Braunschweig als Propst und nicht aufgrund meines christlichen Engagements mit seinen für mich daraus resultierenden Implikationen eines ethisch verantwortlichen Handelns als Kirche.
Weswegen treten Ihrer Meinung nach Menschen aus der Kirche aus – zu wenig Kernbotschaft? Zu viel? Und weswegen treten Menschen ein?
Die Gründe für Ein- und Austritt sind sehr verschieden. Es gibt viele, die vor allem aus materiellen Überlegungen austreten und denen dann Kirche zumeist in ihrem aktuellen Lebensvollzug fern ist. Kirche scheint ihnen kein Angebot zu machen, das für sie in ihrem Leben gerade eine Relevanz hätte. Andere treten aus, weil sie enttäuscht sind und ein bestimmtes Handeln oder Nicht-Handeln gerade auch in ethischen Fragen verurteilen. Das gilt z.B. für den Umgang mit sexuellem Missbrauch. Viele Menschen erreichen wir überhaupt gar nicht mit der guten Nachricht, die wir doch aufgetragen sind weiterzugeben, weil wir nicht dort sind, wo diese Menschen sind, weil wir anders kommunizieren als sie, weil wir in unserem uns Vertrauten bleiben und sagen, die können ja zu uns kommen, unsere Türen sind ja offen, wir läuten ja zum Gottesdienst. Für einen nicht binnenkirchlich sozialisierten Menschen ist die Hemmschwelle zum Überschreiten unserer Kirchentüren aber oft extrem hoch, und wenn sich doch jemand in unsere Gottesdienste verirrt, findet er oder sie sich in einer Welt wieder mit sprachlichen und liturgischen Formen, die zunächst sehr fremd sind, und in einer Kerngemeinde, die sich oft eher passiv einladend verhält anstatt einladend auf Fremde zuzugehen.
Warum haben wir z.B. in einer polyglotten Stadt wie der unsrigen und in unserer gesamten Landeskirche, die ja aufgrund großer international agierender Arbeitgeber weltweit vernetzt ist, nicht eine einzige Kirche, in der Gottesdienste regelmäßig zumindest auch in Englisch angeboten werden?
Ich glaube, wir müssen, um es vereinfacht zu sagen, unseren Glauben aktiver leben, damit wir als Kirche für uns selbst spürbarer und für andere erkennbarer und auch einladender werden. Dazu braucht es aber nicht allein das hauptberufliche „himmlische Bodenpersonal“, sondern das „Priestertum aller Gläubigen“ -– und das Vertrauen in und auf Gottes erlösendes Handeln, zu dem er auch uns – trotz all unserer Schwäche und Unvollkommenheit – nutzen mag.
Allen Unkenrufen zum Trotz bin ich zuversichtlich und voll Vertrauen, dass sich auch morgen und übermorgen Menschen unter Gottes Ruf versammeln und christliche Gemeinschaft leben werden. Die Formen der Vergemeinschaftung und der kirchlichen Organisation mögen vielleicht in der Zukunft andere sein, aber dass das Evangelium in Wort und Tat weitergetragen und gelebt wird, dessen bin ich gewiss.