Liebe Gemeinde!
Ein paar Bänke auf dem Magnikirchplatz sind jetzt erst mal bis Oktober belegt, auf dem Platz vor dem Schloss steht ein festlich gedeckter Tisch mit Stühlen und insgesamt 12 Menschen, die im Gespräch sind, die sich die Speisen auf dem Tisch gleich munden lassen werden. Unter den Arkaden am Altstadtrathaus stehen drei Sofas, auch darauf sitzen freundliche Menschen, die das Treiben um sie herum friedlich lächelnd beobachten. Und etliche andere stehen an verschiedenen Orten der Stadt, schauen zum Himmel, sind in Bewegung oder machen mal eine kleine Pause, alle jedenfalls schauen immer freundlich.
Alltagsmenschen, so heißen sie und begleiten uns in Braunschweig noch bis zum 25. Oktober. Es sind an die fünfzig lebensgroße Betonskulpturen von Christel und Laura Lechner, die bei uns seit Anfang dieser Woche zu Gast sind. Eine künstlerische Inszenierung des Alltäglichen, berührende Momentaufnahmen, die zeigen, was gemeinhin übersehen wird. So heißt es in dem begleitenden Flyer, den Sie am Ausgang nachher gern mitnehmen können, falls Sie auch auf Entdeckungstour gehen möchten.
Alltagsmenschen. Nicht besonders also. Vielmehr wie du und ich. Sie entsprechen keinem besonderen Schönheitsideal, sie sind nicht besonders gekleidet, sie stammen nicht aus den Werbeprospekten, die wir sonst so zu Gesicht kriegen.
Als ich sie in diesen Tagen manchmal zufällig entdeckte, dachte ich an eben diese Verse von heute aus dem letzten Kapitel des Matthäus-
evangeliums. Geht hin in alle Welt und macht zu Jüngern alle Völker. Die ganz normalen Menschen sind hier gemeint. Die wollen und sollen gesehen werden, die haben bei unserem Gott einen Namen, die sind bei ihm nicht Masse, sondern Menschen mit unverwechselbaren, einmaligen Gesichtern. Heute ist der Sonntag, an dem wir an Taufe denken. Deshalb diese Verse aus dem Matthäusevangelium als Evangelium. Taufbefehl, etwas weniger dramatisch formuliert: Taufauftrag. Seine letzten Worte in diesem Evangelium sind das. Diese Worte begleiten seinen endgültigen Abschied von seinen Jüngern auf dieser Erde. Er hatte sie noch einmal bestellt. Auf den Berg. Sie stiegen auf den Berg, wohin Jesus sie bestellt hatte, schreibt Matthäus. Sie wissen nicht, was oben sein wird. Bei dem steilen Anstieg ist er noch nicht dabei. Immer mal wieder Pause machen, den Rundblick genießen. Schweigend steigen sie dem Ziel entgegen, Schritt für Schritt hinauf, dem Gipfel entgegen. Sie werden den eigenen Gedanken nachgegangen sein. Was mag da jetzt kommen? Würde er da sein, schon auf sie warten? Was würde er sagen? Nach all den Ostergeschichten, die sie schon erlebt hatten. Und dann sind sie oben und hören seine Worte. Geht in alle Welt. Ruft in die Nachfolge, erzählt anderen, was ihr selbst einmal gehört habt. Es ist ein Auftrag. Ein Vermächtnis, er vertraut ihnen an, was ihm wichtig ist. Sein Lebenswerk. Das liegt jetzt nach dieser Szene auf dem Berg in ihren Händen. Was mit ihm angefangen hat, das soll mit ihnen und mit uns weitergehen.
Liebe Gemeinde, das liegt jetzt in unseren Händen. Denn wir sind ja Nachkommen dieser Szene auf dem Berg. Wir sind die, die in der Tauffolge stehen seit fast zweitausend Jahren. Wir sind die, die nun dieses Erbe verwalten sollen, die erzählen dürfen und sollen, was er erzählte. Geht hin zu allen Völkern. Einladen sollen wir, dass auch andere Jüngerinnen und Jünger werden. Dass möglichst viele von diesem Gott des Lebens hören, dass sie ihm nachfolgen, dass sie seine Liebe weitersagen. Sich gegen den Hass wenden, der Menschen voneinander trennen will, gegen alle Ausgrenzung, gegen Grenzen zwischen schwarz und weiß, arm oder reich, jung oder alt. Erzählen sollen wir, dass diese Erde reichen könnte für alle, wenn wir die Gier und die Macht begrenzen könnten, wenn wir allen den Raum geben könnten, den sie brauchen.
Wir haben viel zu tun, wenn wir dieses wertvolle Erbe verwalten sollen.
Und weil wir in dieser Tradition dieser besonderen Worte auf dem Berg stehen, deshalb betreiben wir als Kirche die vielen diakonischen Einrichtungen. Deshalb engagieren wir uns als Kirche in unseren Kindertagesstätten, deshalb haben wir ein evangelisches Krankenhaus in unserer Stadt, deshalb gibt es Altenheime, Tafeln, Mittagstische, manchmal auch eine Vesperkirche und vieles mehr. Deshalb nennen wir die Namen derer, die an den Grenzen Europas im Meer versinken. Wir erfüllen den Taufauftrag. Wir sind dabei, das umzusetzen, was bei Matthäus so heißt: lehret sie halten alles, was ich euch gesagt habe. Zu allen Völkern sollen wir gehen. Keine Ausnahmen. Es geht um alle, denn alle sind Kinder dieses Gottes, nicht nur ein paar wenige.
Bei all dem sind diese wunderbaren Alltagsmenschen eine Hilfe, so finde ich. Die sind so normal. Man muss nicht lange suchen, um hier und da Ähnlichkeiten zu bekannten Menschen zu entdecken. Oft schauen wir ja gar nicht mehr richtig hin. Wir sind so sehr auf das Besondere ausgerichtet, das wir die Menschen neben uns manchmal schon gar nicht mehr sehen. Ihre Besonderheiten wahrnehmen, sich mal neben sie setzen, ihnen vielleicht mal zuhören bei dem, was sie von ihrem Leben zu erzählen haben. Das wäre ja was. Das würde manche Horizonte öffnen das wären spannende Begegnungen.
An dem großen gedeckten Tisch vor dem Schloss sitzen 12 Menschen. Und zugleich stehen da weitere 13 freie Stühle an diesem Tisch, die noch Platz bieten. Sie laden ein, sich dazuzusetzen, die stummen Gegenüber mal in den Blick zu nehmen, mal auf sich wirken zu lassen. Und Menschen tun das auch, sie nutzen die freien Stühle für ein paar Augenblicke, trauen sich, sich an den Tisch zu setzen. Der Tisch ist wie ein großes Angebot. Es ist Raum da, es sind Plätze frei für andere, die Speisen werden auch dann noch reichen, wenn alle Stühle besetzt sein sollten.
Wenn wir das im wirklichen Leben auch schaffen würden. Sich mal dazusetzen, mal innezuhalten, vielleicht mal zuhören, nachfragen, sich wirklich interessieren. Wie geht es Ihnen? - das wird meist nur so dahingesagt. Diese eigentlich so guten Worte sind zur Floskel verkommen, auf die wir in Wahrheit keine Antwort mehr erwarten. Wir haben ja auch meist keine Zeit mehr, eine wirkliche Antwort abzuwarten, sich ihr auszusetzen. Was sollen wir auch sagen, wenn der oder die andere plötzlich von ganz anderen Seiten im Leben erzählen würde als nur von den leichten und schönen?
Das macht diese Figuren in unserer Stadt so angenehm, dass sie scheinbar in dauernder Leichtigkeit durchs Leben gehen. Sie genießen einfach den Augenblick. Darin können sie uns ja ein gutes Stück Vorbild sein. Den Augenblick genießen. Nicht immer schon weiter sein in Gedanken, beim nächsten Termin, oder beim Abend, wo erst Nachmittag ist. Den Moment wahrnehmen, kleine Besonderheiten genießen, sich Zeit nehmen für die Gegenwart. Und wir dürfen mal Platz nehmen. Und andere einladen. Es ist noch Raum da, nicht nur am Tisch vor dem Schloss, auch bei uns, auch in unserer Welt. Es lohnt sich, andere in den Blick zu nehmen, sich für ihre Geschichten zu interessieren. Geht hin in alle Welt. Wir haben einen Auftrag. Wir bleiben nicht unter uns, wir öffnen Türen und Fenster und Herzen. Wir dürfen seine Boten sein. Und wenn jemand mitten im Alltag noch mal fragen sollte, wie es uns geht, können wir uns vielleicht mal etwas Zeit nehmen. Amen.
Genauere Informationen zum Kunst-Projekt finden Sie unter:
https://www.christel-lechner.de/alltagsmenschen-braunschweig-2023