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18.12.2021 Kategorie: Wort zum Sonntag

Ein Fenster zum Himmel

Beim Einrichten meines Büros im Theologischen Zentrum habe ich auf eine Sache ganz besonders aufgepasst: Meine handgeschriebene Ikone des Erzengels Gabriel. Sie ist entstanden aus einer Sommerakademie zur Kunstausstellung documenta 14 mit dem Titel „Lernen von Athen“. Ganz wörtlich haben wir dieses Vorhaben aufgegriffen und mit zerriebenen Pigmenten, Blattgold und vielen Eiern nach byzantinischer Tradition gearbeitet. Die Gruppe aus Journalisten, interessierten Hobbymalern und Kunstliebhaberinnen hat unter Anleitung einer Ikonenmalerin aus Kreta 10 Tage gearbeitet. Wir kamen dabei an unsere Grenzen, weil weder Individualität, Kreativität noch künstlerische Begabung zählten, sondern die absolut präzise Reproduktion eines historischen Bildes. Diese Arbeit war zugleich eine intensive Auseinandersetzung mit uns selbst  -mit unserer Haltung und unseren Widerständen - da Ikonen nach griechisch-orthodoxer Tradition ein Fenster zum Himmel sind. Streng gläubige Familien würden sie bei Ehekonflikten bisweilen umdrehen, erfuhren wir.

An diesem Sonntag, dem 4. Advent, steht die Erzählung des Erzengels Gabriel im Mittelpunkt. Er verkündet Maria: „Fürchte dich nicht! Du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben. Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden“. Was für eine Verheißung für ein junges, unverheiratetes Mädchen. Gott plant einen Neustart, jenseits vertrauter Wege: Keine theologischen Experten, keine angesehene, wohlhabende Familie.

Jenseits aller Erwartungen gibt es solche Begegnungen, die unserem Leben eine neue Richtung geben. In einem Gespräch im Krankenhaus oder bei einer zufälligen Begegnung im Zug findet jemand Worte, die mich berühren. Entscheidungen werden klarer.  Ungeplant, unvermutet und unverhofft scheint das Fenster zum Himmel manchmal offen zu stehen.

Die intensive Beschäftigung mit dem Engel hat unsere Gruppe damals verändert. Jede Ikone bekam - auch bei Kirchenfernen - einen besonderen Platz. Es zeigt, dass es Momente gibt, in denen der Himmel offensteht für Neues und wir nur mit Vertrauen antworten können.                            

Pfarrerin Kerstin Vogt ist seit 1.10.2021 Direktorin des Theologischen Zentrums und der Abt Jerusalem Akademie Braunschweig. Zuvor war sie 9 Jahre Studienleiterin für Kultur an der Ev. Akademie Hofgeismar. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder.