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11.09.2025 Kategorie: Propstei, Wort zum Sonntag

Wort zum Sonntag, 13.09.2025

Utopischer Friede?!

Jeden Morgen versetzt es ihr einen Stich ins Herz. Sie geht daran vorbei, direkt nach der ersten Kreuzung mit der stets roten Ampel, an der sie nur darauf wartet, dass der Schmerz kommt. Auf der anderen Seite haftet er. Der Aufkleber mit dem Hakenkreuz darauf. Er ist zu hoch geklebt, vermutlich fällt er kaum noch jemandem auf, verblasst und halb eingerissen. Sie führt er jedes Mal zurück in die Vergangenheit. Zu den ratternden Waggons und der stickigen Luft. Da war weder Frieden noch Humanität. Ob es wieder so kommen kann, fragt sie sich schon seit einiger Zeit. Nicht vergleichbar, nur im Unmenschlichen ähnlich, gibt es viele grausame Schauplätze auf der Welt, auch in ihrem Land. Dort im Süden, wo Granatapfelbäume blühen und eigentlich Milch und Honig fließen sollen.

Direkt nach der Laterne mit dem Aufkleber kommt der Obst- und Gemüseladen von ihrem Bekannten Mohammed. Und um die Ecke ragt die schöne gotische Kirche in den Himmel. Ab und zu unterhalten sie sich im Schatten der Türme über die Gerichte aus ihrer Heimat und die richtige Rezeptur für Hummus oder Falafel. Um politisch oder religiöse Themen geht es nie. Sie wissen auch so um ihre unterschiedlichen Perspektiven und wollen ihre gegenseitige Augenhöhe nicht aufs Spiel setzen. In solchen Momenten scheint es fast so als würden Gerechtigkeit und Friede sich die Hand reichen. In ihrem Land ist das nicht so. Zu viele Verletzungen, zu lang und zu komplex sind die Auseinandersetzungen. Von hier kann man es kaum begreifen, denkt sie. Warum Frieden so utopisch erscheint, warum sich die Beteiligten nicht aufeinander zubewegen und warum auf beiden Seiten so viel Leid in Kauf genommen wird.

Wenn sie abends mit ihren Verwandten zu Hause telefoniert, dann sind die fröhlichen Gespräche mit Mohammed weit weg. Zum Glück geht es ihr nicht so, wenn sie am nächsten Morgen an seinem Geschäft vorbeigeht. Heute grüßt sie nur und er winkt freudig zurück. Auf dem Heimweg will sie ihn endlich fragen, ob er ihr beim Abreißen des Aufklebers hilft. Wie schön wäre es, wenn sie sich morgen schon an der Ampel auf einen kurzen Gruß freuen kann.